Eintauchen in St.Gallen

Eintauchen in St.Gallen

Drei raumgreifende Installationen sind über die Sommermonate 2021 im ESPACE NINA KEEL in St.Gallen zu sehen. Entwickelt und ausgeführt werden sie von den Ostschweizer Architektinnen Eva Lanter, Katia Rudnicki sowie Michelle Bont & Milena Clalüna. Sie sind als Siegerinnen eines Open Calls hervorgegangen, der sich an Architektinnen mit Bezug zur Ostschweiz gerichtet hatte. Gesucht waren Ideen für immersive Räume, die das Nachdenken über und Abtauchen in Andernorts befördern. Die dreiteilige Ausstellungsreihe trägt den Titel IMMERSION (dt. Eintauchen) und möchte eine Plattform sein, um einen experimentellen oder utopischen Raum auf Zeit zu schaffen, und die Sichtbarkeit der Architektinnen fördern.  

IMMERSION begann ornamental: Im Mai schuf Eva Lanter mittels Dämmplatten ein bestechendes Interieur. Das Material, das ansonsten blockweise auf Baustellen herumsteht und sodann Rohbauten mit Pastelltönen umhüllt, verwendete die Architektin für die Gestaltung eines Innenraumes. 

«Wie der rohe Beton zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Beton brut, könnte im 21. Jahrhundert die rohe Isolation sichtbar gemacht werden – als Isolation brute. Was wäre, wenn unsere gebaute Architektur plötzlich aus Sichtisolation statt Sichtbeton bestehen würde?» – Eva Lanter (BATIMENTS)


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Eva Lanter, Isolation Brute

Eva Lanter nahm in Isolation Brute, so der Titel ihrer Installation, eine Bedeutungsverschiebung von Isolationsmaterial vor: Sie verlieh Dämmplatten eine ästhetische Dimension und warf die Frage auf, ob Isolationsmaterial nicht auch sichtbarer verwendet werden könnte. Ihre Installation ist eine Kritik am derzeitigen Umgang mit Aussendämmungen und ein Plädoyer für die Innendämmung. Derzeit verändern zahllose Aussendämmungen ganze Fassaden, berauben sie ihrer Detailhaftigkeit und zerstören damit auch Stadtbilder. Bauökologische Aspekte liessen sich auch anderweitig berücksichtigen – etwa durch (sichtbare) Innendämmung.

Katia Rudnicki bestreitet die zweite Ausstellung der Reihe IMMERSION mit einer monumentalen Installation aus selbst gegossenen Betonfliesen. Insgesamt 54 Fliesen in den Massen 50 x 50 cm resp. Bruchstücke finden in Fragmente zusammen. Die gelbe Fugenmasse ist ebenso wichtiger Bestandteil der Installation wie die grauen Fliesen mit den organischen Vertiefungen: Rudnicki hat die Platten so zueinander arrangiert, dass sich zwei durchgehende Gussflächen – oder amorphe Figuren – ergeben haben. Die Fugenmasse wurde nicht gespachtelt, sondern direkt auf die schräge Wand gegossen. Sie füllt daher nicht wie üblich die Zwischenräume von Fliesen auf, sondern wird zu einem Rinnsal, dringt in sie ein und behauptet sich als eigenes gestalterisches Element.

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Katia Rudnicki, Fragmente

Die Architektin und Künstlerin hat für den ESPACE NINA KEEL ein trapezförmiges Fliesenbild von drei Metern Höhe und vier Metern Breite geschaffen. Aufgrund seiner Di- mension kann es nicht gehängt, sondern einzig an die Wand gelehnt werden. Das Fliesenbild ist weniger Objekt im Raum als raumdefinierendes Element: Es nimmt ihm eine Ecke, verleiht eine Schräge, fliesst in den Boden über und dimensioniert den Raum an der St.Galler Linsebühlstrasse neu.

Michelle Bont & Milena Clalüna schaffen im August mit SPECIO ein geheimnisvolles Spektakel. Sie unterteilen den ESPACE mit einem deckenhohen Spiegel und bilden verschiedene Farbräume aus. Die Bestandteile ihrer Rauminstallation sind – nebst Spiegel und Farben – natürliches und künstliches Licht, Schatten, der angrenzende Strassenraum sowie die kontinuierliche Veränderung all dieser Elemente. SPECIO verbindet räumliche Eingrenzung und Erweiterung und erzeugt an der Spiegelkante die Illusion, gleichzeitig in zwei Räumen zu sein.  


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Michelle Bont & Milena Clalüna, SPECIO, Modellansicht

Mit der Reihe IMMERSION hat der ESPACE NINA KEEL seine Ausstellungstätigkeit aufgenommen. IMMERSION steht paradigmatisch für das Programm und die Ausrichtung: Der ESPACE ist ein Ausstellungsraum für Architektur, Kunst und ihr Zusammenspiel und ermöglicht neue Raumerfahrungen. Er ist situiert im Linsebühl-Bau, dem wichtigsten Gebäude des Neuen Bauens in der Stadt St.Gallen, erbaut 1930-1933 vom Architekten Moritz Hauser. Der ESPACE NINA KEEL will Orte und ihre Sinnlichkeit in den Blick rücken und den Diskurs um Baukultur in der Ostschweiz mitprägen. 

Nina Keel, Kunsthistorikerin und Kuratorin